17 Ziele in der Wissenschaft: Neue Räume für neues Denken
Armut, Hunger, Klimawandel – ohne Frage große Herausforderungen unserer Zeit. Wie innovative Organisationsformen diese Themen angehen, dazu forscht Dr. Ali Aslan Gümüsay an der Universität Hamburg. Seit 2018 leitet er das von der Deutschen Forschungsgesellschaft geförderte Netzwerk „Grand Challenges und New Forms of Organizing“. Er ist Mitgründer des Zahnräder Netzwerks und lebt mit seiner Familie in Hamburg. Ein Gespräch über große Herausforderungen, wissenschaftliche Leidenschaft und persönliches Engagement.
Dr. Gümüsay, worum geht es bei Ihrer Forschung und welche Rolle spielen die 17 Ziele?
Es geht um die großen Probleme wie Armut, Hunger, prekäre Arbeitsverhältnisse, Klimawandel – im Prinzip ein Querschnitt durch die 17 Ziele. Gesellschaftlich höchst relevant ist dabei, die Antwort auf die Frage zu finden: Wie organisieren wir uns, um das jeweilige Ziel zu erreichen? Im Netzwerk sind wir 15 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die betrachten, wie neue Organisationsformen an diesen Herausforderungen arbeiten und auch, ob es negative Rückkopplungseffekte gibt. Ein Beispiel: Betrachtet man „Uber“ aus der Sharing Economy wird deutlich: die vorhandenen Ressourcen der Mobilität werden zwar besser genutzt, jedoch geht damit zum Teil auch der Anstieg prekärer Arbeitsverhältnisse einher.
Was macht diese neuen Formen des Organisierens aus? Was macht sie erfolgreich?
Zu neuen Organisationsformen zählen zum Beispiel Hubs, Inkubatoren, Crowdfunding, politische Salons oder Diskursräume – und einfach Organisationen, die wir noch nicht kategorisch benennen oder greifen können. Sie können digital oder analog sein, basisdemokratisch oder hierarchisch organisiert. Eine Besonderheit an diesen neuen Formen ist, dass sie häufig geschützte Räume bieten, in denen auch Halbwissen oder Ratlosigkeit Platz haben. Sie sind Keimzellen des Wandels. Dadurch wird ein Neu-denken und ein Experimentieren möglich. Oft gibt es keine formellen Mitgliedschaften mehr, dafür aber sehr partizipative Strukturen. Jeder, der sich interessiert, kann irgendwie mitwirken. Mitglieder werden zu Beitragenden, die kommen und gehen. Ich würde das als „fluide Grenzen“ bezeichnen.
Ich bin überzeugt davon, dass es diese Räume braucht. Sicher werden viele Ideen scheitern, aber ein paar wenige werden groß. Und die bewegen dann wirklich etwas.
Sie haben 2010 das Zahnräder Netzwerk mitgegründet. Wie kam die Idee zustande und was waren Ihre Beweggründe?
Ich habe damals eine Forschungsarbeit zu akademischem Unternehmertum verfasst. Ein Ergebnis war, dass es wenige Netzwerke von akademischen Unternehmerinnen und Unternehmern gibt, um sich gegenseitig zu unterstützen. Es mangelte an Wissenstransfer, Austausch, Mentoring, Finanzierung und Unterstützung. Mir ist aufgefallen, dass es dem muslimischen Engagement ähnlich ging. Daher habe ich 2010, gemeinsam mit sechs Mitstreiterinnen und Mitstreitern, das Zahnräder Netzwerk gegründet. Wir wollten muslimische Projekte fördern und fordern, eine Brücke zur Mehrheitsgesellschaft schlagen und die Öffentlichkeit über die Projekte informieren. Wir sehen uns als sozialen Inkubator von Musliminnen und Muslimen für die ganze Gesellschaft. Die Projekte, die im Netzwerk wachsen, haben nicht zwangsläufig einen religiösen Bezug, auch wenn Werte wie Nachhaltigkeit und Nächstenliebe durchaus religiös begründet werden können.
Können Sie ein paar Beispiele nennen?
„Nour Energy“ ist so ein erfolgreiches Projekt. Sie statten Moscheen mit Solarenergie aus. Oder „i,Slam“, ein muslimisches Poetry Slam Format. Mittlerweile ziehen die Veranstaltungen und Workshops hunderte Leute an und das Projekt wird vom Familienministerium gefördert. Ein anderes Beispiel ist die App „frimeo“, die eine direkte Verbindung zwischen landwirtschaftlichen Erzeugern und Endkunden herstellen möchte. Mit Hilfe der App kannst du dann also Bauern in deiner Nähe finden, bei denen du direkt Eier, Kartoffeln und Gemüse kaufen kannst.
Das sind spannende Projekte. Was motiviert Sie persönlich für Ihre Forschungsarbeit und Ihr Engagement?
Neben einer großen Leidenschaft für Forschung, die mit dem Privileg verbunden ist, sich mit tiefgreifenden Fragestellungen befassen zu dürfen, glaube ich an die Kraft und Symbiose von Theorie und Praxis. Ich bin überzeugt davon, dass Theorien einen Beitrag leisten können, für eine bessere Welt. Konzepte sind auch Werkzeuge, um gesellschaftliche Herausforderungen zu erfassen und anzugehen. Es erfüllt mich, etwas für die Gesellschaft tun zu dürfen. Und wenn das auf der Arbeit und im Engagement möglich ist, ergibt sich ein volles aber eben auch erfülltes Leben. Was kann man da noch mehr wollen?
Motivierend wirkt sicherlich auch, und hier zitiere ich frei nach Hölderlin, in der zögernden Weile etwas Haltbares zu schaffen und erschaffen. Zu sehen, wie Projekte aus dem Zahnräder Netzwerk wachsen und mit ihnen die Menschen, die daran arbeiten, das ist berührend. Es ist schön, dass wir mit dem Netzwerk einen dieser geschützten Räume bieten können, von denen ich eingangs gesprochen habe, und so einen kleinen Beitrag zum Erreichen der 17 Ziele leisten können.