Kunst und Nachhaltigkeit – Die Ludwigsburger Schlossfestspiele
Sind die 17 Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030 ein Kulturgut? Im weiten Sinne ist Kultur, was Menschen schaffen, um sich in ihrer natürlichen Umwelt gut einzurichten – die 17 Ziele beschreiben den Weg zu solch einem harmonischen Gleichgewicht zwischen Mensch und Welt. Im engeren Sinne ist Kultur die Sphäre der Kunst; und hier können die Ziele Inspiration und Ideal sein. Oder in den Worten von UN-Vize-Generalsekretärin Amina J. Mohammed: „We created the roadmap and now we need music, dance and all the arts to set people in motion.“ Die Kunst hat eine wichtige Rolle zu spielen, wenn es darum geht, gesellschaftliche Diskussionen über die Nachhaltigkeitsziele anzustoßen und voranzubringen.
Diese Überlegung steht hinter dem neuen Konzept der Ludwigsburger Schlossfestspiele. Das 1932 begründete traditionsreiche Kulturfestival, das jährlich rund um das württembergische Residenzschloss Ludwigsburg stattfindet, versteht sich seit 2020 als „Fest der Künste, Demokratie und Nachhaltigkeit“. Um ihrem Anspruch gerecht zu werden, „an einer offenen und nachhaltigen Gesellschaft der Zukunft mitzuwirken“, haben die Organisatoren der Festspiele um den Intendanten Jochen Sandig die SDGs als thematischen Leitfaden in die Programmgestaltung integriert.
Die Ludwigsburger Schlossfestspiele ziehen jedes Jahr etwa 30.000 Besucher an. In der beginnenden Festspielsaison 2022 kann das kunstinteressierte Publikum zwischen mehr als 60 Veranstaltungen auswählen. Traditionell überwiegen Konzerte und Produktionen aus dem Bereich klassischer Musik; aber auch Tanz, Theater und Literatur kommen zu ihrem Recht. Für die Künstler und Veranstalter geht es dabei nicht darum, pedantisch die SDGs abzuarbeiten und auf diese Weise Wissen oder Gesinnung zu vermitteln. Für diese Art Didaktik ist das Medium Kunst zu komplex. Vielmehr werden Kunstwerke auf ihre Bedeutung für die großen Fragen der Zeit abgeklopft. Künstler entwickeln neue diskursive Formate, die beispielsweise Musik und Text oder Tanz kombinieren, wodurch das musikalische Kunstwerk in den Kontext des Festspielmottos „Demokratie und Nachhaltigkeit“ gestellt wird und eine neue Bedeutung entfalten kann.
Einige Beispiele aus dem Programm der aktuellen Saison geben einen Eindruck von der Vielfalt der Ansätze: Die Produktion „Les Adieux“ unter Leitung von Patricia Kopatchinskaja kombiniert die Elemente klassische Musik, Videoprojektionen und Bühnenbild, um eine Wehklage auf den Untergang unseres Planeten anzustimmen. „Die Schöpfung – Erde an Zukunft“ ist eine Adaption von Joseph Haydns Oratorium „Die Schöpfung“, die Karsten Gundermann zusammen mit 1.500 Schülern geschaffen hat – sie will dazu ermutigen, Verantwortung für die Umwelt zu übernehmen. „The Common Stories – Soundtrack of Our Wars“ ist ein Stück dokumentarisches Musiktheater, das Spaltung und Versöhnung zum Thema macht – in einem Kontext ethnischer Spannungen in Bosnien und Ruanda. Das Kronos Streichquartett spielt Stücke aus seinem Projekt „50 for the Future“: Die Musiker baten 50 zeitgenössische Komponisten auf der ganzen Welt um neue Werke, deren Noten allen Menschen kostenlos zugänglich gemacht werden. Das Mandelring Quartett gibt ein demokratisches Konzert „À la carte“, bei dem das Publikum entscheidet, welche Werke gespielt werden. Und die Tanzproduktion „The 3rd Box: Männlich, weiblich, divers – und nun?“ bringt junge, diverse Künstler zusammen, um das Lebensgefühl von Menschen auszudrücken, die sich nicht als männlich oder weiblich betrachten.
Die Beschäftigung mit Demokratie und Nachhaltigkeit soll nicht auf das beschränkt bleiben, was auf der Bühne passiert. Ein Festival ist ein Begegnungsort – Gespräche vor und nach den Veranstaltungen sind ein wesentlicher Bestandteil des Erlebnisses. Die Veranstalter laden Besucher zum Meet & Greet nach den Konzerten ein; hier kann man viele der Künstler persönlich treffen und über die Themen der Produktionen ins Gespräch kommen. Kunsterlebnisse vertiefen können Besucher auch im Internet: Auf der digitalen Bühne der Festspiele sind Interviews und Hintergrundmaterialien zu finden; einige Konzerte sind hier auch komplett zum Nachhören eingestellt. Und natürlich muss eine Großveranstaltung wie die Festspiele in punkto Nachhaltigkeit auch ganz praktisch mit gutem Beispiel vorangehen: Ob ressourcenschonende Maßnahmen, diverse Arbeitsplätze oder Baumpatenschaften – der Festivalbetrieb selbst soll inklusiv und nachhaltig sein.
Ein Schlüsselbegriff bei der Selbstbeschreibung der Festspiele ist Verantwortung. Nicht nur Politik und Wirtschaft, auch Bürger und Kultur sollen ihre Verantwortung für die Zukunft erkennen und wahrnehmen. Dabei sind Künstler nicht in einer Position der Wissenden, die ihr Publikum aufklären. Sie müssen vielmehr erst einmal selbst eine neue Sicht auf die Welt und ihre Arbeit entwickeln und, darauf aufbauend, neue Formate entwickeln, durch die sie mit ihrem Publikum über die großen Zukunftsfragen ins Gespräch kommen können. Die Leitung der Schlossfestspiele will ausdrücklich auch zu diesem Zweck Künstler zusammenbringen und kreative Diskussionen in Gang setzen. Künstler, die regelmäßig bei den Festspielen mitwirken, sollen so auch an der konzeptuellen Weiterentwicklung des Festivals beteiligt bleiben.
„Denn obschon die Kunst und ihre Institutionen unbedingt frei bleiben müssen von politischer Einflußnahme sind wir nicht frei von der Verantwortung uns auch als kulturelle Akteure politisch, ethisch, sozial und menschenverständigend zu positionieren.“ Aus dem Festspielkonzept 2020
Die Nachhaltigkeitsziele können nur durch das Zusammenwirken vieler Menschen und Institutionen erreicht werden. Auch die Ludwigsburger Schlossfestspiele arbeiten mit gleichgesinnten Partnern zusammen. Im Rahmen des Aktionsnetzwerks Nachhaltigkeit kooperieren die Festspiele mit anderen Unternehmen und Organisationen des Kultursektors. Wichtigste Träger des Festivals sind die Stadt Ludwigsburg und das Land Baden-Württemberg. Die Stadt engagiert sich schon seit langem für nachhaltige Stadtentwicklung und erhielt 2014 den deutschen Nachhaltigkeitspreis. Das Land Baden-Württemberg stellt in seinen entwicklungspolitischen Leitlinien fest, dass Kultureinrichtungen eine besondere Verantwortung haben, entwicklungspolitische Themen lebendig zu vermitteln.
Diese Hervorhebung der Kultur wirft ein Schlaglicht auf das Potenzial der Kunst bei der gesellschaftlichen Verankerung der Werte, die den Nachhaltigkeitszielen zugrunde liegen. Die Kunst erreicht ein Publikum, das im besten Sinne als bildungsbürgerlich bezeichnet werden kann. Bildung und Bürgersinn sind tatsächlich gerade die Zutaten, die nötig sind, um die Gesellschaft für die SDGs und die Agenda 2030 zu mobilisieren. Um dies zu erreichen, darf Kunst sich allerdings nicht elitär einigeln, ganz im Gegenteil. Das Ludwigsburger Schlossfestival möchte durch die Entwicklung neuer Formate und die Zusammenarbeit mit Schulen gerade auch ein neues, breiteres und vielfältigeres Publikum ansprechen.
Darüber hinaus ist die Kunst die Sphäre der Gesellschaft, in der Menschen sich ohne Rücksicht auf Alltagsroutinen und Alltagsinteressen über große Fragen austauschen. Hier ist der Ort der geistigen Freiheit, in der wir einen Schritt zurücktreten und unser eigenes Alltagsdasein an den universellen Werten der großen Ideen messen können. Kunst kann uns dazu anregen, unsere Lebens- und Denkgewohnheiten zu hinterfragen und unser Dasein neu auszurichten. Genau das brauchen wir, wenn wir die SDGs erreichen wollen. Kunst wird niemals alle ansprechen – aber dort, wo sie wahr- und ernst genommen wird, kann sie vermutlich besonders effektiv zur Schärfung des Bewusstseins für die Bedeutung der Entwicklungsziele beitragen.